Altes und neues Liebauthal



Liebauthal (Libavské Údolí)

Historische Fotos

Sammlung und Recherche: Siegfried Träger


Die Fabrikkolonie Liebauthal, seit Bildung der Tschechoslowakei nach dem 1. Weltkrieg auch Libavské Údolí, befindet sich in Westböhmen zwischen den Städten Eger und Falkenau nahe der Kleinstadt Königsberg. Der Ort entstand ab dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts regelrecht auf der grünen Wiese im unteren Tal des Liebaubaches und verdankt seine Existenz allein der Gründung eines Textilunternehmens durch die beiden Brüder Franz und Ferdinand Lenk, die bereits in Königsberg ein Textilfabrikation begründet hatten. Seine Geschichte ist also vornehmlich die Geschichte einer Fabrik, der erst Jahrzehnte nach ihrer Entstehung eine ausgedehnte Wohnkolonie für ihre Beschäftigten angegliedert wurde. Neben dem Namen Lenk prägte ein weiterer Name das Gesicht der Kolonie: Stroß.

Franz und Ferdinand Lenk, aus dem nahen Vogtland stammend, hatten von Königsberg aus ab etwa 1830 das Unternehmen aufgebaut; Sigmund Stroß, der Sohn eines Textilfabrikanten aus Mährisch-Weißkirchen, hat die Fabrik nach mehreren Zusammenbrüchen und Stilllegungen 1892 übernommen und unter dem Firmennamen Ginsberg & Stroß wieder in Gang gesetzt (siehe dazu http://liebauthal-textilfabrik.blogspot.com/). Etwa gleichzeitig damit begann am westlichen Talhang der Bau von drei Reihen mehrstöckiger Wohnblöcke, deren letzter - mit der Nummer 73/74 - um 1921 fertiggestellt wurde. Die Wohnblöcke zusammen mit der Fabrik auf der Talsohle des Liebaubaches prägten das Bild der Kolonie Liebauthal, das sie trotz Verlust der alten Bausubstanz noch bis heute weitgehend besitzt.

Während aus der Frühzeit Liebauthals, also dem 19. Jahrhundert, bislang lediglich eine zeichnerische Darstellung ohne Angabe der Entstehungszeit und des Künstlers bekannt ist (siehe unten erstes Bild) , finden sich Fotodokumente, vornehmlich als Postkartenmotive, ab etwa der Jahrhundertwende, mit Personen - mit einer Ausnahme - sogar erst aus noch späterer Zeit. Im Folgenden wird eine Auswahl dieser Dokumente verschiedener Themen mit hinzugefügten Erklärungen gezeigt.


Das alte Liebauthal

Es ist nicht sicher, wann diese einzig bekannte Darstellung aus der Frühzeit Liebauthals - Standpunkt des Künstlers war an der Straße hinauf zum "Schabener Berg" - entstanden ist, der Mode abgebildeter Personen zufolge etwa um 1850. Zu diese Zeit jedenfalls waren alle das Bild enthaltende Gebäude - angeblich errichtet von dem Königsberger Baumeister Kaspar Jäger - bereits vorhanden.
Ganz links sieht man die von den Brüdern Lenk als erste Fabrikationsstätte zwischen 1830 und 1835 errichtete Spinnerei, allerdings in einer Ausdehnung und Form, die nicht mehr der in späteren Jahren hier vorhandene sogenannten "Stallung" (dazu siehe weiter unten mehr) entsprechen. Die Spinnerei wurde zunächst mit Wasserkraft betrieben, bald aber mit der Dampfkraft eines Lokomobils. Das nächste Gebäude, mit der Giebelseite dem Betrachter zugewandt, ist bereits das "Herrenhaus" (auch dazu Näheres weiter unten), die Wohnstätte der Fabrikeigentümer. Dahinter befindet sich das "Schieferhaus", ebenfalls unten mehr dazu. Bei dem nun folgenden Gebäude handelt es sich wahrscheinlich um die "alte" Färberei, die mit dem dahinter aufragenden "Turm" über eine Transmission verbunden war. Dieses Gebäude existiert noch, im 20. Jahrhundert war darin der "Speisesaal" untergebracht und im Untergeschoss öffentliche Wannenbäder.

Nicht gesichert ist zu sagen, dass es sich bei dem auf der Zeichnung ganz rechts nur teilweise sichtbaren Gebäude um den sogenannten "Neubau" handelt. Hargesheimer spricht davon, dass um 1840 im Tal des Liebaubaches als neuerer Teil der Fabrik ein zweistöckiges Webereigebäude errichtet wurde, mit der Weberei im zweiten Stockwerk und darunter die Kremplerei. Hier seien bereits mechanische Webstühle in Betrieb genommen worden, die zunächst auch noch mit Wassserkraft betrieben wurden, in den 1870er Jahren dann aber verstärkt durch ein Lokomobil. Alle beschriebenen Gebäude wurden mit Petroleumlampen schlecht und recht erhellt, "erst sehr viel später", so Hargesheimer, "ging man auf Gasbeleuchtung über". Die Verbindung innerhalb der alten Fabrik erfolgte durch Ochsengespanne, von denen der Zeichner sogar zwei in sein Bild aufgenommen hat.

Das alte Liebauthal von Südosten


Auf dieser kolorierten Postkarte (Herausgeber Wolfgang Baum, Liebauthal - Bildgeberin Frau Gertraud Neidl), geschrieben 1923 sieht man links die "Stallung". Diese Benennung musste der Gebäudekomplex aber erst lange nach seiner Errichtung zwischen 1830 und 1835 erhalten haben, denn hier befand sich ursprünglich - folgt man vorhandener Beschreibungen - eine Spinnerei, diente aber wohl auch als Unterkunft für die Zugtiere der Fabrik. Betrachtet man die Zeichnung Alt-Liebauthals oben, muss die alte Spinnerei ursprünglich wesentlich größer gewesen sein als das später Stallung genannte Anwesen. Das bestand aus einem quer zum Tal liegenden Komplex mit Wohnungen, dem sich talaufwärts eine Gebäudereihe anschloss, in dem sich ebenfalls Wohnungen befanden (siehe nächstes Foto). Beide Gebäudeteile sind auf der Postkarte deutlich zu erkennen. Erkennbar ist auch in der unteren linken Bildecke ein Gewässer. Dabei handelt es sich um das Ende des sogenannten Fluters, mit dem das für den Antrieb der Spinnereimaschinen und später für die Färberei erforderliche Wasser aus dem Liebaubach auf ein Wasserrad geleitet wurde. Der Fluter wiederum speiste sich aus dem sogenannten Lenkenteich, den die Gründer Liebauthals, Franz und Ferdinand Lenk, vor allen anderen Fabrikbauten um 1830 bachaufwärts zusammen mit dem Fluter angelegt hatten. Obgleich schon lange nicht mehr benötigt, existieren sowohl Lenkenteich und Fluter noch, während die Stallung schon vor Jahrzehnten abgerissen wurde - wie so gut wie alle anderen von den Brüdern Lenk errichteten Gebäude der ursprünglichen Lenkschen Fabrik. So auch das "Hufeisen", in etwa Bildmitte erkennbar an zwei rot kolorierten Dächern (Beschreibung siehe übernächstes Bild). Nach dem Hufeisen, ebenfalls mit einem eingefärbten roten Dach, sieht man das "Herrenhaus", das ebenfalls weiter unten näher beschrieben wird. Links davon, das große weiße Gebäude ist das sogenannte "Schieferhaus", benannt möglicherweise nach seiner ehemaligen Schieferbedachung. Im 20. Jahrhundert hieß es aber auch "Sachs-Haus", weil hier der Prokurist Paul Sachs mit seiner großen Familie wohnte. Das Schieferhaus soll bereits 1837 erbaut worden sein und eine Handweberei beherbergt haben, vermutlich aber auch immer Wohnungen für Bedienstete der Fabrik. Eine Uhr an der Frontseite stammte aus dem Jahre 1839.

Die Stallung


Dieses Foto, aufgenommen 1957 von Oldřich Kovář, zeigt die "Stallung" von hinten mit ihren Wohngebäuden. In der Stallung befand sich seit etwa den 1920er Jahren auch ein fabrikeigener Kindergarten (siehe weiter unten).

Das "Hufeisen"



Legt man die zeichnerische Darstellung Liebauthals zugrunde, könnte ein Bauteil des Hufeisens zunächst isoliert bestanden haben, ein parellel dazu stehender Baukörper sowie der beide Teile verbindende Mittelteil später errichtet worden sein. Im Hufeisen befand sich im 19. Jahrhundert wahrscheinlich die Kattundruckerein  der Fabrik (Kattun von englisch Kotton = Baumwolle). Der erste namentlich bekannte Kattundrucker war der aus Graslitz stammende Johann Baptist Hochmuth, der 1862 und noch später in Liebauthal wohnte. Ein anderer Kattundrucker war der ebenfalls aus Graslitz stammende, aber im nahen Königsberg lebende Josef Rabenstein. Nachdem der Kattundruck noch vor der Jahrhundertwende eingestellt worden war, dienten die Räume des Hufeisens zunächst als Büros, bald aber als Wohnungen für Angehörige der Fabrik. Bekannt ist, dass Moritz Hertzka, der "Kassier" der Noe Stroß A.-G. in den 1920er Jahren, und Rudolf Pick, ein Abteilungsleiter der Verkaufsabteilung, hier wohnten.


Das Herrenhaus


Diese als Postkarte vom "Verlag: W. Baum, Inh. Otto Baum, Liebauthal" herausgebrachte Aufnahme eines unbekannten Fotografen dürfte in den 1920er Jahren entstanden sein. Man sieht rechts die Straßenfront des Herrenhauses, das die Nr. 27 besaß. Diese Nummer galt bis etwa 1900 für die gesamte Kolonie. Das Herrenhaus soll 1839 von den Gründern der Liebauthaler Textilfabrik Franz und Ferdinand Lenk gebaut worden sein, die beide auch mit ihren Familien hier wohnten und starben. Nachweisbar als Bewohner des Herrenhaues sind außerdem folgende Lenk-Abkömmlinge: Franz Ferdinand Lenk, Fabrik-Associe und Sohn von Franz Lenk, Karl Lenk, Bruder der beiden Gründer und später Fabrikbesitzer in Miltigau sowie Georg Michael Lenk, Mitbesitzer der Fabrik und Sohn von Ferdinand Lenk. Georg Michael Lenk ist wahrscheinlich der letzte Lenk-Spross gewesen, der im Herrenhaus wohnte, ehe es zusammen mit der Fabrik 1892 an Sigmund Stroß aus dem böhmischen Weißwasser verkauft wurde, der danach hier Wohnung nahm. Nachweisbar jedenfalls ist, dass sein einziges Kind Wilhelm Stroß 1894 hier zur Welt gekommen ist. Nachfolger von Sigmund Stroß als Bewohner des Herrenhauses wurde der Fabrikdirektor Dr. Hans Groák, nach dessen Tod im Jahre 1928 bewohnte es ab 1932 der letzte Präsident der Noe Stroß A.-G. Walter Stroß. ein Neffe von Sigmund Stroß, mit seiner Familie bis zu seiner Flucht vor den deutschen Okkupanten 1938. Ein weiterer Bewohner - bis etwa 1938 - war der Angestellte Dr. Wilhelm Tandler. Nach der Flucht von Walter Stroß nahm das Haus der kommissarische Direktor der Fabrik Alfred Meyer in Beschlag, der darin aber wahrscheinlich bereits vor 1938 zusammen mit der Familie Stroß lebte. Das Gebäude im Hintergrund des Bildes befindet sich jenseits des Liebaubaches bereits auf Schabener Kataster und war in Liebauthal als "Schmidthaus" bekannt, benannt nach Michael Schmidt, der hier bis Anfang des 20. Jahrhunderts die Gastwirtschaft "Zum Waldschlösschen" betrieb





Rückseite des "Herrenhauses", aufgenommen etwa 1935. Bildgeberin: Bridget Laky (+),  San Francisco (ehemals Brigitte Stroß), die hier ihre Jugend verbrachte, bis sie mit ihren Eltern Walter und Lilly Stroß und ihrer Schwester Eva infolge der Okkupation des "Sudetenlandes"  und der damit einhergehenden Judenverfolgung nach England emigrierte.
Diese dekorierte Postkarte (Herausgegeben von der 1. Karlsbader Kunstanstalt Josef Fritz Brandl - Bildgeberin: Frau Gertraud Neidl, geb. Prell), geschrieben 1928, zeigt das Esemble von Hufeisen, Herrenhaus und dem dahinter befindlichen Schieferhaus von der Straße nach Schaben aus.



Anhand dieses 1973 von mir aufgenommenen Fotos ist die enge Nachbarschaft von Herrenhaus (links) und Schieferhaus deutlich zu erkennen. Sie trennte nur ein schmaler Durchgang hin zum Hufeisen und zur Stallung. Beide Gebäude wurden zusammen mit dem Gasthaus und dem Turm (siehe nächste Bilder) in den 1980er Jahren demoliert und damit die wichtigsten Zeugnisse Liebauthaler Geschichte beseitigt.

Das "Herrenhaus" wird demoliert und damit eines der ältesten Zeugnisse des "alten" Liebauthals. Aufnahme eines unbekannten Fotografen (vermutlich Oldřich Kovář), Bildgeberin Elfriede Stadler, geb. Riedl.

Das "Schieferhaus"


Diese Aufnahme eines unbekannten Fotografen - Bildgeberin Elfriede Stadler, geb. Riedl - ist insofern ein besonderes Dokument, als sie nach dem vorausgegangenen Abriss des Herrenhauses freie Sicht auf das Schieferhaus freigibt. Wie leicht erkennbar, steht auch dieses "historische" Gebäude aus Lenkscher Zeit kurz vor der Demolierung.

Turm und Wirtshaus


Auf diesem Ausschnitt aus einem Postkartenmotiv vermutlich aus den 1920er Jahren sieht man den zusammenhängenden Komplex Turm und Wirtshaus. Er gehört ebenfalls zu den in Lenkscher Zeit errichteten Gebäuden und verschwand mit diesen durch Abriss, vermutlich Mitte der 1980er Jahre. Eine Beschreibung beider Bauteile erfolgt weiter unten.


Der Turm


Dieses Fotos aus dem Besitz von Ida Nüssel, geb. Stelzig (+), zeigt die nach Osten offene Fensterseite des "Turms". Dieser Turm, der im Zuge der Durchnummerierung der Kolonie die Nr. 13 erhielt, besaß - wie aus der Zeichnung oben ersichtlich - ursprünglich eine Haube, die jedoch mit der Abtragung oberer Turmteile in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts verschwand. Dieses Gebäude, das zum alten Bestand der Lenkschen Textilfabrik gehörte, diente zum Trocknen frischgefärbter Ware, die mittels einer Transmission von der im Tal befindlichen Färberei herübertransportiert und im Inneren an einer Galerie aufgehängt wurde. Als das Foto um 1923 oder 1924 entstand, befanden sich im Turm bereits Wohnungen sowie die Post- und Telegraphenstation für den Ort und die Fabrik, von der das auf dem Bild links über der Eingangstür angebrachte Schild zeugt. Von den auf dem Foto sichtbaren erwachsenen Personen sind von links zählend folgende identifiziert: 2. Ilse Sachs, die Tochter des Prokuristen Paul Sachs; 3. Adolf Stelzig, Vater der Bildgeberin; 4. Moritz Hertzka, Kassier der Firma Noe Stroß; 5. Therese Stelzig, die Posthalterin. Im Fenster: rechts Erna Adler, Tochter des Buchalteres Emil Adler; links: Ida Stelzig.

Das Wirtshaus


"Um 1840 herum bauten die Brüder Lenk ein Wirtshaus und eine Scheune. Die Scheune stand unterhalb der Stelle, wo sich heute das Gasthaus Schmidt befindet und wurde erste 1923 abgetragen". Auf diese Passage in dem Text von Dolf Harbauer über Liebauthal beruht die Annahme, dass es sich bei dem oben abgebildeten Gebäude - als Postkarte bereitgestellt von Otto Sommer - um das erwähnte Wirtshaus handelt, während sich das Gasthaus Schmid etwas abseits in Richtung Falkenau bereits auf Schabener Kataster befand und neuerer Herkunft war.

Als Pächter des später mit der Nummer 35 versehenen Lenkschen Wirtshauses kommen folgende Personen in Frage: Michael Buberl aus Königsberg für die Jahre 1857 und 1858,  der wahrscheinlich aus Annaberg in Sachsen stammende Karl Christian Angerer für das Jahr 1873, Josef Stubner aus Königsberg für das Jahr 1881, Josef Vinzl für die Jahre 1910 und 1911 (obiges Bild stammt aus dessen Zeit als Pächter) und Adam Zuber für die Jahre 1916 und 1923. Allerdings könnte auch der aus Schönbrunn stammende Michael Schmid einer der Pächter gewesen sein, denn er wohnte um die Jahrhundertwende in der Nr. 35. Nach Adam Zuber soll - laut mündlicher Aussage - ein weiterer Pächter namens Gärtner die Gastwirtschaft geführt haben. In den 1930er und 1940er Jahren befand sich in dem Gebäude auch das Gemeindeamt Liebauthal-Kogerau und im unteren Geschoß des Gebäudes - möglicherweise mit der Nr. 43 - eine Fleischerei des Fleischers Anton Wabra.



Diese Aufnahme, fotografiert vermutlich von Oldřich Kovář, bezeugt die "letzten Tage" von Turm und Gasthaus, die, wie oben beschrieben, beide ebenfalls aus der Ära Lenk stammen. Bildgeberin: Elfriede Stadler, geb. Riedl



Das neue Liebauthal

Die Kolonie im Werden



Diese als Original leicht kolorierte Postkarte (Bildgeberin Frau Gertraud Neidl, geb. Prell) zeigt die Kolonie noch ohne die "Untere Reihe", für die allerdings bereits Auschachtungsarbeiten zu erkennen sind. Versandt wurde die Karte im Jahre 1905. Der Standpunkt des unbekannten Fotografen befand sich wahrscheinlich auf dem sogenannten "Turm", der ursprünglich zum Trocknen der gefärbten Ware errichtet worden war, zum Zeitpunkt der Aufnahme aber wohl bereits als Wohnhaus diente und ab 1909 die Post- und Telegraphenstelle beherbergte.

Ein weiteres Detail zur Karte sei hier vermerkt: Sie wurde von Wolfgang Baum "verlegt". Dieser jüdische Kaufmann unbekannter Herkunft hatte sein erstes Geschäft für Waren des täglichen Bedarfs zunächst im Haus Nr. 60, das links im Vordergrund der Aufnahme erkennbar ist. Nach Fertigstellung der "Unteren Reihe" bezog Baum das hierzu gehörende Haus mit den Nummern 62 und 63, das fortan von den Einwohnern der Kolonie "Baumhaus" genannt wurde (siehe Bild weiter unten).

Ansicht der Fabrikkolonie von Nordwesten


Diese Aufnahme entstand um das Jahr 1930 und diente als Vorlage für Ansichtskarten, die zum verbreitetsten Motiv der Kolonie gehörten. Fotograf soll der Liebauthaler Tischler Adolf Scherbaum gewesen sein. Das Foto nutzte sogar einem Liebauthaler Lebensmittelhändler als Werbemittel, indem er die Karte mit einem Eindruck seines Geschäftes versah, eine Fotomontage, die der "Photo- u. Luftbildverlag J. Beck, Stuttgart-Bad Cannstadt" in den 1930er Jahren produzierte, obwohl es sich nicht um eine Luftaufnahme handelt. Aber ähnlich einer Luftaufnahme zeigt das Bild fast den gesamten Umfang Liebauthals, wegen der Perspektive allerdings ohne seine ältesten Gebäude, das Herrenhaus, das Schieferhaus, das Hufeisen und die Stallung. Gut erkennbar hingegen sind die drei Reihen der Miethäuser, die ab 1892 für die Beschäftigten der Textilfabrik Ginsberg & Stroß gebaut wurden: Zunächst die "Obere Reihe", rechts im Bild, zuletzt die "Untere Reihe" (hierzu siehe auch "Die Kolonie noch im Werden").

Haus Nr. 72/71


Das Mietshaus mit den beiden Eingängen Nr. 72 (rechts) und der Nr. 71 bestand noch nicht, als die vorhergehende Aufnahme gemacht wurde. Auf seinem Areal sieht man statt dessen - links im Bild - noch ein bewirtschaftetes Feld. In diesem Haus befand sich das erste Bürgermeisteramt der Doppelgemeinde Liebauthal-Kogerau. Auch der erste Bürgermeister Franz Bartl (1914-1920), hatte hier seine Wohnung. Das Gemeindeamt befand sich in den 1940er Jahren im Haus Nr. 35 (Gasthaus).


Das "Baumhaus"


Benannt wurde das Gebäude mit den Nummern 63 (rechter Eingang) und 62, wie bereits oben gesagt, nach dem Kaufmann Wolfgang Baum, der im Erdgeschoss des rechten Teil des Gebäudes mit der Nr. 63 ein Geschäft für die Alltagsbedürfnisse der Liebauthaler Bevölkerung betrieb und im Stockwerk darüber wohnte. Mit großer Wahrscheinlichkeit war das der erste Laden dieser Art überhaupt in der Kolonie. Erst Jahre später kam ein Konsum der Konsumgenossenschaft Chodau-Grasltz hinzu (Nr. 81), der aber mit Beginn der NS-Herrschaft "privatisiert" wurde. Zu Beginn der 1930er Jahre eröffnete der aus Königsberg stammende Christoph Kauzner ein weiteres Lebensmittelgeschäft (Nr. 97). Wolfgang Baum soll vor Etablierung seines Geschäftes - zunächst im Haus Nr. 60 - einen ambulanten Landhandel betrieben haben, der ihn in der gesamten Umgebung bekannt machte und ihm dadurch dann in Liebauthal auch Kundschaft von außerhalb der Kolonie einbrachte.

Wolfgang Baum musste sich wenige Jahre nach seinem Einzug in das Haus Nr. 63 einer antisemitischen Kampagne gegen ihn erwehren, angeblich im Zusammenhang mit dem Tod seines Dienstmädchens. Dabei handelte es sich wahrscheinlich um das aus Pleschnitz im Bezirk Mies stammende Dienstmädchen Anna M., das im Alter von 19 Jahren am 4. März 1910 an den Folgen eines Schädelbruchs verstorben ist, den es sich in selbstmörderischer Absicht zugezogen hat. Ruhe in dieser Sache brachte schließlich das Machtwort des katholischen Priesters Heinrich Seitz. Wolfgang Baum ist 1929 in Liebauthal verstorben und soll auf dem Königsberger Judenfriedhof beerdigt sein. Das Geschäft führte sein Sohn Otto Baum fort. Otto Baum wurde nach der Okkupation der Sudetengebiete durch Nazi-Deutschland verhaftet und in Dachau ermordet. Seine Ehefrau kam zusammen mit dem 1933 geborenen Sohn Wolfgang in das KZ Theresienstadt, das sie beide überlebtenDie Beiden  wanderten um 1950 in die USA aus (laut MItteilung von George Baum, früher Wolfgang). Das obige Bild, ein Postkartenmotiv, entstand etwa 1918.

 Die "Luftbahn"



Im Vordergrund dieses Postkartenmotivs aus dem Jahr 1923 - herausgegeben von Wolfgang Baum, Bildgeberin Frau Gertraud Neidl - befinden sich zwei Gestelle der in Liebauthal "Luftbahn" genannten Drahtseilbahn, die aus der etwa 1,5 Kilometer in Richtung Königsberg befindlichen "Ernst-Ludmilla-Zeche" Braunkohle für das Kesselhaus der Fabrik heranschaffte. Im Gedenkbuch der Stadt Königsberg heißt es dazu: "Die Ludmillazeche, im Volksmund 'Abraum' (im Dialekt "Oram" - S. T.), wurde i. J. 1903 in Betrieb gesetzt, die Seilschwebebahn i. J. 1904.". Schon vor der Inbetriebnahme der Ludmilla-Zeche, einem Tiefbau, war an der "Oram" Kohle abgebaut und per Pferdefuhrwerke in die Liebauthaler Fabrik transportiert worden. Im Hintergrund erkennt man - von rechts - Mietshäuser der Oberen, Mittleren und Unterer Reihe, wie sie oben bereits beschrieben sind.


Die Lenkenstraße


Liebauthal besaß nur diese einzige das gesamte Wohngebiet des Ortes durchquerende Straße, sie kam über den "Kapellenberg" von Königsberg her und teilte, steil ins Tal der Liebau abfallend, die Kolonie von der Wohnstruktur her in zwei unterschiedliche Hälften. Von oben gesehen links von ihr befanden sich die Mietshäuser, rechts davon ab den 1920er Jahren entstandene "Privathäuser". Einen offiziellen Namen besaß die Straße nicht, wurde aber gelegentlich als "Lenkenstraße" bezeichnet. Die "Lenkenstraße" vereinigte sich nahe dem "Schieferhaus" (siehe oben) mit einer Straße, die zunächst entlang der Eger, dann ein Stück entlang des Liebaubaches verlief und schließlich nach einer langen Gerade den Ort am Haupteingang der Fabrik erreichte. Es war die Hauptverbindung zwischen Königsberg und Falkenau und zugleich eine sichtbare Grenze zwischen Fabrik und Wohngebiet. Bildgeber: Gerhard Kneissl.

Das "Scherzer-Gasthaus" und seine Vergangenheit


Das dereinst als "Scherzer-Gasthaus" bekannte Wirtshaus befand sich von Liebauthal aus gesehen jenseits des "Kapellenbergs" bergabwärts links der "Lenkenstraße" auf einer Terrasse bereits in unmittelbarer Nähe von Königsberg. Das mag den Eigentümer Simon Scherzer auch dazu veranlasst haben, die oben eingefügte Postkarte aus den 1920er Jahren mit dem Eindruck "KÖNIGSBERG" zu versehen. (Bildgeber: Hans Scherzer, Bonn) . Tatsächlich aber befand sich dieses prächtige Gebäude mit der Nr. 38, zu dem auch eine Kegelbahn gehörte, auf Kogerauer Kataster. Und den Namen des letzten Eigentümers trug es auch erst seit etwa 1925. Um diese Zeit nämlich hatte der aus Königsberg stammende Simon Scherzer das Anwesen von dem Gastwirt Josef Fiedler gekauft, in dessem Besitz es wahrscheinlich erst nach dem Tod seiner Ehefrau Anna Fiedler, verwitwete Krattner, geb. Štech, im Jahre 1922 gekommen war. Anna Fiedler hatte 1905 den Gasthausbesitzer und Witwer Georg Krattner geheiratet, und dieser Georg Krattner, geboren 1841 in Königsberg und 1914 gestorben, war der wahrscheinliche Erbauer und bis zu seinem Tod der Eigentümer des Hauses Nr. 38. Das Anwesen ist bereits 1878 nachweisbar; in diesem Jahr jedenfalls wohnte im "Krattner-Haus auf der Ludmilla Höh", wie es im Matrikeneintrag genannt wird, der Tagelöhner Georg Dietl mit seiner Familie.

Das Krattner-Haus war jedoch zeitweise nicht nur eine biedere Gaststätte. Mündlichen Überlieferungen zufolge dürfte es zu Beginn des 20. Jahrhunderts zudem ein "Freudenhaus" gewesen sein; jedenfalls liegen mir Aussagen vor, wonach um diese Zeit das Anwesen von einem Bretterzaun umgeben gewesen sei, hinter dem sich an schönen Tagen die Damen des Hauses leicht bekleidet gesonnt hätten. Nicht überliefert ist indessen, aus welchen Kreisen sich ihre Kundschaft rekrutiert hat, wahrscheinlich doch nicht aus der ärmeren Bevölkerung der Gegend. Diese "Vergangenheit" der Nr. 38 mag den neuen Eigentümer Simon Scherzer dazu veranlasst habe, eine seiner zur Werbung angefertigten Ansichtskarten mit dem etwas ungewöhnlichen Aufdruck "Streng solides Lokal" zu versehen. In "sozialistischer" Zeit soll das Gebäude als Unterkunft für Junge Pioniere gedient haben. 1991 aber war es bereits unbewohnt und offenbar dem Verfall preisgegeben, ehe es schließlich 1996 abgerissen wurde, um auf dem Grundstück angeblich einen Neubau zu errichten, wie man Werner Kabatnik auf seine Frage beschied. Herr Kabatnik hat das Gebäude noch kurz vor dem Abriss fotografiert (Foto oben links). Inzwischen ist die Stelle, auf der das ansehnliche "Krattner-", später "Scherzer-Gasthaus" stand von Gebüsch überwuchert.

Restaurant "Zum Goldenen Fass"


Das Restaurant mit dem offiziellen Namen "Zum Goldenen Fass" und der Nr. 42 befand sich an der oben beschriebenen Lenkenstraße und gehörte zu den wenigen Häusern in Privatbesitz auf der Seite der Mietshäuser. Sein wahrscheinlich erster Wirt und möglicherweise Erbauer war Anton Hackl aus Haselbach bei Falkenau, der hier 1914 im Alter von 66 Jahren Selbstmord durch Erschießen beging. Das Anwesen ging in die Hände des Fleischers Otto Stingl aus Zieditz und seiner Ehefrau Marie Stingl, geb. Magerl, aus Wusleben, Kreis Tachau, über, die neben dem Restaurant auch eine Metzgerei betrieben. Nach der Scheidung des Ehepaares Stingl und der Wiederverheiratung Marie Magerls mit dem Fleischer Georg Wenig hieß die Gastwirtschaft im Sprachgebrauch des Ortes nur noch Gasthaus Wenig. An das Gasthaus Wenig bzw. seine Gäste knüpfen sich allerlei "lustige" Anekdoten. Ich selbst erinnere mich daran, dass beim Einmarsch der US-Truppen im Mai 1945 vor dem Gasthaus die Waffen deutscher Soldaten, die hier offenbar in Gefangenschaft geraten waren, zerstört wurden. Das Anwesen wurde in den 1970er Jahren abgerissen, etwas abseits davon befindet sich jetzt ein Plattenbau. Die Familie Wenig gehörte mit zu den ersten Liebauthalern, die 1946 vertrieben wurden. Bildgeber: Gerhard Kneissl.


Das "Goldene Fass" kurz vor dem vollständigen Abriss, fotografiert vermutlich von Oldřich Kovář. Bildgeberin Elfriede Stadler, geb. Riedl

Das Gasthaus Hofmann



Im Jahre 1922 baute der aus Schönficht stammende Josef Hofmann zusammen mit seiner Ehefrau Anna Hofmann, geb. Lugert, in einem Seitenweg zur Lenkenstraße das Haus Nr. 79 mit angrenzendem Saal und eröffnete darin eine Gaststätte. Neben dem normalen Gastwirtsbetrieb verköstigte das Ehepaar Hofmann noch pro Tag etwa 80 bis 100 Beschäftigte der Fabrik. Im Saal fanden die Veranstaltungen der Liebauthaler Vereine statt. Das Foto zeigt die Kapelle Karl Sykora auf der Bühne des Hofmannschen Saales, aufgenommen zu Beginn der 1930er Jahre . Zweiter von rechts ist Josef Hofmann, 4. von rechts der Leiter der Kapelle Karl Sykora aus Königsberg und 2. von links der Kellner Erwin Mühlhans*) aus Liebauthal. Hofmann war von 1939 bis 1945 Bürgermeister und wurde nach Ende des Krieges von den tschechoslowakischen Behörden als „Amtsträger“ interniert. 1946 gelang ihm die Flucht und der Übertritt über die Grenze, im September 1946 traf er seine Ehefrau und Tochter wieder. Diese waren am 5. 4. 1946 mit dem 3. Transport von Falkenau aus in die US-Zone vertrieben worden und in die Gegend von Kahl am Main gekommen waren (Bildgeberin und Info: Anna Wanka, geb. Hofmann – 2006).

*) Erwin Mühlhans hatte Kellner im Hotel Pupp in Karlsbad gelernt. Nach einer Tätigkeit als Kellner dort war er in der Liebauthaler Fabrik beschäftigt. Er soll Mitglied der Roten Wehr gewesen sein und flüchtete nach der Okkupation des "Sudetenlandes" durch Hitler-Truppen ins Innere des Landes. Nach seiner Rückkehr soll er in Karlsbad im Gefängnis gesessen haben. Von dort habe ihn der inzwischen zum Bürgermeister Liebauthals ernannte Gastwirt Josef Hofmann freibekommen. Etwa 1939 wurde er erneut verhaftet und kam in das KZ Dachau und von dort für kurze Zeit in das KZ Flossenbürg. Nach etwas mehr als 4 Jahren Haftzeit gelang seiner Ehefrau durch persönliche Intervention bei Konrad Henlein seine Freilassung ,und er fand für kurze Zeit eine Beschäftigung in einem Kohlenbergwerk. Zwei Monate später wurde er zur Wehrmacht eingezogen, kam nach Russland, wo er zweimal verwundet wurde. Bei einem Urlaubsaufenthalt in Liebauthal versuchte die Familie ihn zum Bleiben in einem Versteck zu überreden, was er aus Furcht vor Verfolgung aber ablehnte und wieder einrückte. Beim Rückzu geriet er bei Mährisch-Ostrau in russische Gefangenschaft und verbrachte vier Jahre als Kriegsgefangener in Murmansk. Inzwischen war seine Familie im Herbst 1946 mit einem ANTIFA-Transport nach Regensburg ausgesiedelt, wo er sie nach seiner Entlassung mit Hilfe des Roten Kreuzes fand. Er erhielt als politisch Verfolgter eine finanzielle Wiedergutmachung, womit er in Regensbsurg eine Gaststätte pachtete, entschloss sich dann aber, 1957 zusammen mit seiner Ehefrau und den Kindern Ilse und Rudolf nach Kanada zu ziehen, wohin sein Sohn Ernst bereits 1954 ausgewandert war (Info: Anna Wanka, geb. Hofmann – 2006; Ernst Mühlhans, Sohn -  2007; Bruno Rupp, Neffe – 2007).

Die Konditorei Fibiger


Ebenfalls an der "Lenkenstraße" hat der Bäcker und Konditor Karl Fibiger, Sohn eines Obermeisters der Weberei, in den 1930er Jahren dieses Haus mit der Nr. 76 gebaut und darin seine Konditorei eröffnet, ausgestattet im Inneren mit einem gemütlichen Gastzimmer (Bildgeberin: Anneliese Uher, geb. Fibiger, Ingolstadt). Meine eigene Erinnerung an die Konditorei ist verknüpft mit leckeren "Schmettenrollen", ein mit Sahne gefülltes Blätterteiggebäck, und mit Leckeis, das mittels einer sommers im Hof der Konditorei rotierenden Eismaschine produziert wurde.


Fibiger bot jedoch noch weitere Vergnügen. An Wochenenden engagierte er eine kleine Musikkapelle, die an der oberen Stirnseite des Gebäudes zum Tanz aufspielte. Das obige Fotodokument erhielt ich von Frau Alice Weinrich, geb. Kahle (+), Tochter eines früh verstorbenen Obermeisters der Weberei, die in Bildmitte mit "Bubikopf" zu sehen ist. Aufgenommen wurde das Foto etwa 1932/33 von Frau Weinrichs späteren Ehemann, dem aus Königsberg stammenden Herbert Weinrich. Der Kapelle gehörten lauf Auskunft meiner Liebauthaler Informantin Frau Anna Burkert (+) Lorenz Becher aus Kogerau (Geige), Josef Langhammer aus Pochlowitz (Saxophon) und Josef Grimm an. Auf dem Foto ist rechts die Gastwirtschaft Josef Hofmann zu sehen.

Friseursalon Josef Kneissl und Bata-Schuhgeschäft










Der Friseurmeister Josef Kneissl stammte aus Kirchenbirk und baute Anfang der 1920er Jahre das Haus mit der Nr. 75 gegenüber dem Gasthaus Wenig. Das Foto links zeigt Kneissls Haus im ursprünglichen Zustand, rechts nach Umbau und Einbau einer Gaube, unter welcher der Schuhmachermeister Josef Ziegler, der aus Prünles nach Liebauthal gekommen war, ein Bata-Schuhgeschäft eröffnete. Nach 1946 befand sich in dem Gebäude die Poststelle. In wessen Besitz sich das Haus jetzt befindet, ist nicht bekannt. Bildgeber beider Fotos: Gerhard Kneissl (+).




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